Natürlich ist auch Brasilien von Kopf bis Fuß auf die Weltmeisterschaften eingestellt. Das Land erblüht im gelb-grünen Farbenrausch, in Rio de Janeiro verändert ein Straßenmalwettbewerb das Bild der Stadt. Nur – die richtige Begeisterung will irgendwie nicht aufkommen. Zu tief steckt der Frust über die selaçao, die Nationaltrainer Dunga aufgestellt hat. Ein Team fast ohne Stars, eine Arbeitsmannschaft, die sich mit deutschen Tugenden zum Sieg kämpfen will: Disziplin und Hingabe sind die Schlüsselworte Dungas. Eine “fast schon militaristische“ Haltung bescheinigt der Sportjournalist Fernando Calazans dem Trainer.
Dunga rechtfertigt sich mit dem Debakel bei der letzten WM in Deutschland, als Brasilien im Viertelfinale gegen Frankreich glanzlos ausschied. Ein Team von Stars (Ronaldinho, Ronaldo….), aber undiszipliniert. Jetzt kennt Dunga keine Gnade mehr: Wer 2006 durch mangelnde Disziplin auffiel, bleibt draußen. Prominentestes Opfer ist Ronaldinho, der allerdings diese Entscheidung durch eine Formkrise erleichterte.
Für die brasilianischen Fans ist es schwierig, in dem jetzigen Team Identifikationsfiguren zu finden. Unumstritten ist nur Robinho, ein Dribbelkünstler, der vielleicht als einziger im Dunga-Team brasilianische Spielfreude verkörpert. Er ist damit der große Gewinner beim Werbegeschäft. Kaká ist zwar der einzige internationale Star, hat aber eine klägliche Saison hinter sich. Und wirklich beliebt ist der Bibelfreund mit dem Musterknabenimage nicht. Symptomatisch ist der Mittelstürmer: Luis Fabiano, sicherlich kein schlechter Spieler, aber im Handel wird niemand sein Hemd mit der Nummer 9 los.
Die letzte Zuflucht der Kanaille
Der Disput über die Nationalmannschaft ist wie immer ein Disput über Brasilien, oder besser, über Hoffnungen und Visionen, die die Brasilianer und Brasilianerinnen (und nicht nur sie) an dieses Land knüpfen. Die bestenfalls respektierte, aber doch ungeliebte Nationalmannschaft verkörpert ein Brasilien, das seiner Besonderheit, seiner Musikalität, seinem Talent für das pure Vergnügen, seinem Schlawinertum abschwört und die Zukunft auf Arbeit und Disziplin, auf Anpassung an das stahlharte Gerüst der Moderne gründet.
Immerhin: Dungas Auswahl provozierte massive Prostete. Ein typischer Dunga-Satz wie: “Was an einem Fußballspiel interessiert, ist das Ergebnis”, kommentiert der Historiker Joel dos Santos: “Wenn das so ist, dann müssen wir den Fußball aufgeben.” Bei aller Wichtigkeit, die das Ergebnis hat – die Theorie des “Fußballs der Ergebnisse” ist unterkomplex, unterschätzt brutal den Facettenreichtum und Ambiguität des Dramas, das der Fußball verkörpert.
Unterkomplex ist auch der Appell Dungas an den Patriotismus, mit dem er jede Kritik an seiner Auswahl abbügelt. Merival Perreira, der eigentlich eher Politik und Wirtschaft beim mächtigen Medienkonzern Globo kommentiert, erinnert an einen Ausspruch von Samuel Johnson: Patriotismus ist die letzte Zuflucht der Kanaille. Harte Worte, die in Kommentaren und blogs überraschend viel Zuspruch finden – und das zu einer Zeit, in der auch die Politik zusehends auf einen neuen, kruden Patriotismus setzt.
Für brasilianische Fans ist die Situation nicht einfach. Wenn´s denn los geht, werden natürlich alle für Brasilien schreien – aber nicht ohne verhaltenen Frust und mit der Hoffnung, trotz Dunga noch brasilianischen Fußball zu sehen ( Robinho!!!). Noch komplizierter wird es dadurch, dass in Südafrika das argentinische Team einen Gegenentwurf zu den preußischen Brasilianern präsentiert. Maradona setzt nicht auf Disziplin, sondern auf Offensivgeist und „corazón“ (Herz). Mit geheimer Bewunderung schielt Brasilien zum ungeliebten Nachbarn. Wer nicht nur sein Land, sondern auch den Fußball liebt, der befindet sich zurzeit in Brasilien in einem großen Dilemma. Die Lage ist also komplex, das mag nicht gut für die Gefühle sein, regt aber die Reflexion an.
Und so neu ist das alles nicht. Der große argentinische Trainer Menotti stellte schon 1978 fest: “Sie verwandeln den brasilianischen Spieler in einen simplen Befehlsempfänger, sie missachten sein Talent und verletzten die Traditionen. Der Verlust eines Titels kann nicht bedeuten, dass eine ganze Nation seiner eigenen Kultur abschwört.”
Zu wünschen bleibt, dass der brasilianische Fußball in Südafrika seiner gänzlichen Germanisierung widersteht und Brasilien trotz Dunga Weltmeister wird.
Dr. Thomas Fatheuer ist Büroleiter des Büros Brasilien der Heinrich-Böll-Stiftung.